Views: 93
Menschen leben in der Zeitenwende zum III. Reich im Hotel. Ihr Leben ist im Umbruch, im Wartestand oder sogar in Auflösung begriffen. Diese Menschen verbindet nichts außer diesem Raum, in dem sie agieren. Allerdings teilen sie sich die Erkenntnis, so einsam wie gemeinsam, dass sich in der Weimarer Republik der soziale und politische Raum verändern wird. Er wird für sie nichts Gutes vorhalten. Liebevoll erzählt Vicki Baum die Schicksale und Lebensgeschichten unterschiedlichster Menschen, die eines vereint: Sie leben an einem Ort, dem Hotel, dem einzigen Ort, den sie noch haben. Der Ort ist ihr Programm.
Maélys Vaillant, Literaturwissenschaftlerin, analysiert diesen Ort „Hotel“ als Kategorie für ihre Analyse der Heterotopien, die bestimmend für die Romane Vicki Baums sind. Ihr gelingt eine Einführung in die Repräsentation von Räumen und deren Geschichte in der deutschsprachigen Exilliteratur.
Rezension
Vaillant untersucht in ihrer Studie drei der bekanntesten Hotelromane der jüdischen Schriftstellerin Vicki Baum:
- Menschen im Hotel (1929) zählt zu den erfolgreichsten Romanen der Weimarer Republik. Die Hollywood-Verfilmung Grand Hotel (1932) mit Greta Garbo und Jean Barrymore machte Vicki Baum schlagartig weltberühmt. Der Film ist heute ein historisches Dokument jener Zeit, eng am Text des Romans gestaltet. Lebensgeschichten, ungewöhnlich und oft tragisch, deren Raum nur das Hotel sein kann, denn die Gesellschaft in der Weimarer Republik würde sie alle ausschließen. Wir erzählen eine Geschichte als Beispiel: die Geschichte der alternden schönen russischen Primaballerina Gruschinskaja.
- Hotel Berlin (1943) setzt Menschen im Hotel fort, jedoch bestimmt der Weltkrieg der Nationalsozialisten die Handlungen der Figuren. Der nahende Untergang ist überall spürbar. Das Hotel Berlin, das einstige Juwel, zeigt überall Verfall und Dekadenz. Düsternis und Melancholie umschließen den Raum. Das Hotel als Ort hat auch eine neue Funktion hinzugewonnen: Es ist zum Gefängnis geworden für manche politischen Häftlinge, die die Gestapo nicht in Lager schicken oder eliminieren will. Daher greift Vaillant im Rahmen ihrer theoretischen Begriffe zur Analyse des Hotels als Ort der Gefangenschaft. Eine andere Variation der Analyse ist die „Abweichungsheterotopie“, wenn das Hotel auch als Ort des Exils genutzt wird, als Ort des Übergangs vom einen Ort zu einem anderen, um der Verfolgung im III. Reich zu entkommen. Die Ironie besteht nun darin, dass im Hotel Menschen leben, die politisch verfolgt sind, die einen wie im Gefängnis, die anderen noch frei und die Gestapo mitten unter ihnen.
- Hotel Shanghai (1939) thematisiert das Leben im Hotel, wenn die Flüchtenden bereits im Ausland leben, in Shanghai, in China. Der Krieg ist jedoch ebenfalls in Shanghai, die Auswirkungen des chinesisch-japanischen Krieges wirken auch hier. In einem Weltkrieg gibt es keine Sicherheit, kein Ort, kein Hotel ist geschützt vor tödlichen Angriffen. So wird letztlich auch das Hotel Shanghai und seine Bewohner am Ende von einer Rakete getroffen. Vicki Baum zeichnet im Hotel Shanghai die Handelnden sehr detailliert, beschreibt ihre Biografien ausführlich, lange bevor sie im Hotel Shanghai Zuflucht suchen und Quartier nehmen. Die Verflechtungen, die sich daraus ergeben, dass so unterschiedliche Persönlichkeiten aufeinandertreffen, sind spannend und interessant. Sie sind in einem „Plauderton“ geschrieben, der die Lektüre sehr angenehm macht.
Beispiel einer Analyse
Nehmen wir zur Demonstration der Heterotopie die Figur der Tänzerin und ehemaligen Primaballerina Grusinskaja aus dem Roman Menschen im Hotel, in der Hollywood-Verfilmung gespielt von Greta Garbo.
Die Primaballerina Grusinskaja hat große Zeiten erlebt, sie hat auf berühmten internationalen Bühnen Begeisterungsstürme ausgelöst, in Paris wie in St. Petersburg. Diese Bühnen waren ihre Welt. Nun ist ihre Kunst wie sie selbst in die Jahre gekommen. Ihre Zeit ist so gut wie vorbei, sie füllt keine großen Säale mehr, die Verehrer werden rar. Sie mutiert zur einer Heimatlosen, das Hotel als Ort wird ihr zur neuen, eher unfreiwilligen Bleibe. Die Vereinsamung nimmt ihrer Anmut den Reiz und ihrer Schönheit den Glanz. Das Hotel wird zu ihrem sozialen Überlebensmodul in einer immer morbideren Welt, in der sie alles gegeben hat. Jedoch ändern die neuen politischen und kulturellen Entwicklungen in der Weimarer Republik auch den gesellschaftlich-kulturellen Raum, die andere Heterotopie, in der sie sich als Tänzerin bewegt: das Theater. Verkürzt gesagt vertreibt der Gesellschaftstanz Charlston das Ballett. So ist sie nicht nur eine alternde Diva, sondern ihre Kunst selbst stirbt aus. Sie ist die Verliererin der sozialen Umwälzungen. Das Hotel als Heterotopie ist der einzige Ort, an dem sie noch weiterhin ihre Lebensrolle spielen kann.
Fazit
Die Studie Vaillants liest sich leicht und flüssig, selbst der Rekurs auf Michel Foucaults Theorien zur Heterotopie erscheinen nicht schwerfällig. Vaillant versteht es, die theoretischen Grundlagen durch die Geschichten der Figuren in den genannten Romanen so aufzulockern, dass ein Lesefluss entsteht. Ein Mittel dazu sind viele Textauszüge, die das Gesagte erläutern.
Empfehlenswert für Liebhaber von Romanen, deren Figuren in einer politischen Zeitenwende um ihr Überleben kämpfen. Sie sind fiktiv und doch real ihrer Zeit zugeordnet. Vor dem heutigen Hintergrund politischer Umwälzungen und Zeitenwenden wieder eine aktuelle Lektüre.