Der Dschihadismus – eine never ending story? Asiem El-Difraoui ist ein anerkannter Experte zu Fragen des Dschihadismus. Er wählt das metaphorische Bild der Hydra, um Gestalt, Struktur und Ausbreitung des Dschihadismus der letzten 20 Jahren zu beschreiben: Vielköpfig, nachwachsend, tödlich! Der Dschihadismus ist die Geisel unserer Zeit. Welche Lösungen haben wir?

Asiem El-Difraoui versucht Erklärungen. Es gelingt ihm eine tiefgehende Analyse der verschiedenen Facetten des Dschihadismus – aus unterschiedlichen Perspektiven und im zeitlichem Abstand. Besonders interessant wird es, wenn El-Difraoui seine Analysen in eigene Reportagen, Interviews und Reiseeindrücke einbettet. Der Lerngewinn ist enorm. Er beschäftigt sich auch mit der Frage der Bekämpfung des Dschihadismus. Dazu gehört die Frage der De-Radikalisierung. Wie kann es gelingen, radikalisierte, meist junge Menschen in die Gesellschaft (zurück)zu holen.

Inhalt

El-Difraoui beginnt mit einer detaillierten Betrachtung der Ursprünge des modernen Dschihadismus: Er beschreibt ihn als eine Mischung aus politischen, religiösen und sozialen Faktoren. Er versteht die Bewegung mit ihren Heilsversprechungen als Sekte, die ihre islamischen Ursprünge verzerre und missbrauche.

Die drei dschihadistischen Prinzipien

Im Innenbereich folgen Dschihadisten drei Prinzipien: Al-wala-wal-bara, taghut und takfir. Al-wala-wal-bara ist die unbedingte Loyalitätszusage an den dschihadistischen Führer. Gleichzeitig ist damit eine strikte Ablehnung von Nichtmuslimen verbunden. Ebenso ausgegrenzt werden aber auch Muslime, die die salafistisch-wahhabitische Auslegung nicht für sich akzeptieren. Damit schafft sich die Community ein Feindbild, das für den inneren Zusammenhalt sorgt. Taghut bezeichnet die strikte Ablehnung aller Systeme, die nicht von der salafistisch-wahhabitischen Koranauslegung gedeckt sind. Dazu gehören alle Rechtssysteme. Allein die Sharia als göttliches Recht gilt, alle anderen Systeme sind obsolet. Dies bedeutet, dass auch das Grundgesetz für Dschihadisten keine Bedeutung hat. Sobald er kann, wird er islamisches Recht fordern, das für ihn bindend ist. Takfir bezeichnet Menschen, die einem anderen System angehören, sei es einem Rechtsstaat, einer Demokratie oder Religion. Sie werden wenn sie Muslime sind, exkommuniziert. Dadurch sind sie de facto in den Augen der Dschihadisten vom richtigen Islam abgefallene Nicht-Muslimen. Auf Abfall vom Islam steht die Todesstrafe. Der Dschihadist glaubt sich nicht nur ermächtigt, diese Menschen töten zu dürfen, wo immer er es kann. Er hält es für seine Pflicht als Muslim, die Erde von diesen Menschen zu befreien. Andersgläubige dürfen allemal getötet werden, sofern sie keiner Offenbarungsreligion angehören. Daher war es für die IS-Dschihadisten moralisch kein Problem, massenweise Yeziden im Irak zu töten und die Frauen als Sexsklaven zu nutzen. Für sie ist das im Islam erlaubt und geboten.

Der Schriftsteller Abdelwahab Meddeb hat den Dschihadismus als die ‚Krankheit des Islam‘ bezeichnet. Vielleicht ist das Bild eine ‚Parasiten‘ stimmiger, eines Parasiten, der sich von seinem Wirt ernährt, ihm dabei großen Schaden zufügt und auf andere Wirte überspringt – denn der Dschihadismus hat immer weniger mit dem Islam zu tun.

El-Difraoui argumentiert, dass der Dschihadismus nicht als isoliertes Phänomen zu verstehen sei. Er hält ihn für die Antwort auf geopolitische, soziale und vor allem wirtschaftliche Krisen. Dabei erwähnt er, dass die westlichen militärischen Interventionen ursächlich seien für die Zunahme von Ungleichheiten und Diskriminierungen in vielen muslimischen Gesellschaften. Als Beispiel nennt er die Zerstörungen 2003 im Irak. Wenn sich in Folge extremistische (Gegen)Bewegungen gebildet hätten, sei dies kausal erklärbar.

Die Rolle der Social Media

El-Difraoui behandelt auch die Bedeutung von Social Media und digitaler Plattformen für die Rekrutierung neuer Anhänger und für die Verbreitung von Propaganda. Insbesondere die Kommunikationsbüros des IS haben gezeigt, dass der Dschihadismus sich in den letzten Jahren zunehmend modernisiert hat. Er löste sich von traditionellen militärischen und politischen Strukturen und nutzt inzwischen digitale Räume, um junge Menschan anzusprechen. Das ist jedoch ein schwieriges Terrain: Wird eine gewaltbereite dschihadistische Webseite geschlossen, öffnet am nächsten Tag ein neuer Account. Dieser ändert vielleicht sein Auftreten, aber nicht die Message. Dasselbe gilt, wenn eine Zelle oder ein Anführer eliminiert werden. Auch sie werden durch neue Akteure ersetzt. Dieser Aspekt des Buches ist besonders aufschlussreich. Es bietet wertvolle Einblicke in modernen Methoden des Extremismus.

Internationale Strategien gegen globalen Dschihad

In seiner Analyse stellt El-Difraoui nicht nur die Bedrohung durch dschihadistische Bewegungen heraus, sondern auch die Schwierigkeiten der internationalen Gemeinschaft, eine nachhaltige und effektive Strategie zu entwickeln. Die Lösung dieses Problems erfordert mehr als militärische Interventionen. El-Difraoui fordert einen multidimensionalen Ansatz. Dieser sollte vor allem Prävention und Bildung beinhalten. Nur damit sind politische Lösungen und die Bekämpfung der zugrunde liegenden ideologischen Ursachen möglich. Dies bedarf langfristiger Anstrengungen, wenn die Hydra wirklich zerschlagen werden soll.

Koloniale Vergangenheit und jüngere Kriege

El-Difraoui sieht, dass die Zerstörungen durch die Kriege der USA in MENA-Staaten ursächlich sind für die Entwicklung des Dschihadismus. Die USA/NATO haben Strukturen zerschlagen, ohne in der Lage gewesen zu sein, neue aufzubauen. Dann haben sie, wie in Afghanistan, die Menschen sich selbst und Extremisten überlassen. Dies erklärt die Vulnerabilität der Jugend und deren Radiklalisierung. Je weniger Vertrauen die Jugendlichen in ihre Zukunft haben, desto leichter fallen sie in die Falle der immer professionellern Rekrutierer der Dschihadisten, seien es IS, Hamas oder andere.

El-Difraoui fordert Selbstkritik von den westlichen Staaten. Sie müssten verstehen, dass der Kolonialismus nachwirkt. Gerade die neueren Kriege gegen den Terror haben hier Spuren hinterlassen. Sie alle hätten bis heute destabilisierende Wirkung. Soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Perspektiven fehlten oft gänzlich. Junge Menschen radikalisieren sich, werden rekrutiert und verstärken die unterschiedlichen dschihadistischen Gruppierungen. Eine Geisel der Menschheit und eine never ending story also?

Fazit:

„Die Hydra des Dschihadismus“ ist eine umfassende Analyse des Dschihadismus. Es gelingt Asiem al-Difraoui ein komplexes Thema in verständlicher Weise darzustellen. Das Buch ist sowohl für politisch Interessierte als auch für Fachleute, die sich mit Terrorismusforschung und internationalen Beziehungen befassen, von großer Bedeutung. Verständlich und gut lesbar, weil die politischen Analysen mit einer breiten historischen Perspektive und Landeskenntnis kombiniert werden.

Weiterlesen

Appetizer

https://www.google.de/books/edition/Die_Hydra_des_Dschihadismus/n7ZLEAAAQBAJ?hl=de&gbpv=1&pg=PA1934&printsec=frontcover

https://qantara.de/node/17940