Lukas Maisels Novelle „Tanners Erde“, erschienen 2022 im Rowohlt Verlag, ist ein kleines, aber eindringliches literarisches Juwel, das mit präziser Sprache und tiefem Gespür für menschliche Existenzfragen überzeugt. Die Geschichte, die in einem fiktiven Schweizer Voralpendorf namens Huswil spielt, erzählt vom Milchbauern Ernst Tanner und seiner Frau Marie, deren bescheidenes, ritualisiertes Leben durch das plötzliche Auftauchen zweier unerklärlicher, bodenloser Löcher auf ihrem Land aus den Fugen gerät.

Maisel gelingt es, mit kargen, fast schon poetischen Sätzen eine Atmosphäre zu schaffen, die an die Werke von Gottfried Keller oder Franz Kafka erinnert. Seine Prosa ist „taghell“ und klar, durchsetzt mit einem Hauch Schweizer Dialekt, der Authentizität verleiht, ohne aufdringlich zu wirken. Die Novelle, die mit 144 Seiten bewusst knapp gehalten ist, konzentriert sich auf das Wesentliche – und genau darin liegt ihre Stärke. Die Handlung entwickelt sich ohne Schnörkel, dafür mit einer Intensität, die den Leser unweigerlich in den Abgrund zieht, vor dem Tanner steht.

Die Löcher auf Tanners Hof sind mehr als ein bloßes Ereignis; sie fungieren als offene Allegorie, die Raum für Interpretationen lässt. Sind sie Omen, Strafe oder schlicht Zufall? Maisel zwingt keine Bedeutung auf, sondern lässt die Symbolik wirken: Die Löcher spiegeln die Brüche in Tanners Leben wider – in seiner Beziehung zu Marie, in seiner Rolle als stolzer, aber isolierter Bauer, in der fehlenden Solidarität der Dorfgemeinschaft. Besonders beeindruckend ist, wie Maisel die Sprachlosigkeit und scheue Zärtlichkeit zwischen Tanner und Marie zeichnet. Sätze wie „Er würde wohl kaum irgendwas anders machen, wenn er sein Leben noch mal leben könnte. Ausser vielleicht die Marie häufiger auf die Stirne küssen“ sind von einer stillen Melancholie, die lange nachhallt.

Die Novelle wird von Kritikern wie Elke Heidenreich als „höchst beeindruckend“ gefeiert, und auch Samuel Hamen lobt ihre Konzentration auf das Wesentliche als „reines Leseglück“. Dennoch gibt es vereinzelte kritische Stimmen, etwa in der ZEIT, die bemängeln, dass die Geschichte an Witz und Tiefe mangele und zu sehr auf ihren Grundeinfall vertraue. Dieser Vorwurf greift jedoch nur bedingt, da die Stärke des Buches gerade in seiner Schlichtheit und Offenheit liegt.

Maisel gelingt es, universelle Themen wie Verlust, Zerbrechlichkeit von Sicherheiten und die Suche nach Sinn in einer scheinbar irrationalen Welt zu verhandeln, ohne dabei belehrend zu wirken. „Tanners Erde“ ist eine Parabel auf die Halbwertzeit der Gegenwart, wie die Berliner Zeitung treffend bemerkt, und zugleich eine zutiefst menschliche Geschichte. Wer bereit ist, sich auf die leise, aber eindringliche Erzählweise einzulassen, wird, wie Ariane Koch es formuliert, „hineinfallen und als jemand anders wieder herauskriechen“.

Fazit: „Tanners Erde“ ist eine meisterhafte Novelle, die mit sprachlicher Präzision und emotionaler Tiefe besticht. Lukas Maisel beweist, dass große Literatur nicht viele Seiten braucht, um zu berühren und zum Nachdenken anzuregen. Ein Muss für Liebhaber literarischer Perlen, die das Unsagbare sichtbar machen.

Empfehlung: Für Leser, die reduzierte, aber tiefgründige Erzählungen schätzen, etwa von Kafka, Robert Walser oder zeitgenössischen Autoren wie Reinhard Kaiser-Mühlecker.